Rike Pätzold ist Expertin für Ungewissheit und berät und coacht Unternehmen und Organisationen. Warum Ungewissheit in ihrem Leben von Anfang an eine besondere Rolle spielte, wie sie auf die Krise vorbereitet war und mit welchen Strategien Ungewissheit in Stärke umgewandelt werden kann, berichtet sie unter anderem in einem Interview mit uns.
Liebe Frau Pätzold, Sie sind Expertin für Ungewissheit: Waren Sie denn vorbereitet, auf derart ungewisse Zeiten, wie wir sie gerade erleben?
Ja, tatsächlich! Meine Grundhaltung zum Leben ist „Wenn alles passieren kann, kann alles passieren.“ Oder auch, wie es die Schriftstellerin Margaret Drabble so schön sagt: „When nothing is certain, everything is possible.“
Die Frage, die mich seit Jahren umtreibt, ist ja genau die, wie sich Sicherheit in der Ungewissheit schaffen lässt. Wie man sich auf etwas vorbereitet, das man nicht kennt. Dazu habe ich geforscht, mit Menschen gesprochen, ausprobiert. Einer der Strategien, die sich als enorm hilfreich erwiesen hatte, war, immer einen Plan B zu haben. Mein Plan B ist z. B. Chinesisch-Sprachunterricht für Anfänger. Ich habe einen akademischen Hintergrund in Sinologie (in Verbindung mit Sprachpädagogik) und eine Zeitlang in der Region gelegt – da hatte sich das einfach angeboten. Als es mit der Pandemie losging, sind mir zunächst einmal alle Präsenzveranstaltungen und fast alle Aufträge weggebrochen. Zu unsicher war die Situation auch für meine Kunden. Aber fürs Chinesisch-Lernen war plötzlich Zeit da! Und da ich immer schon sehr auf mein Beziehungsnetz achte (das ist auch so eine wichtige Voraussetzung für Ungewissheitstoleranz: ein tragendes Netz an gelingenden Beziehungen), hatte ich schnell genug „Schüler“, um mich gut über Wasser zu halten. Und da genau diese Situation ja mein Steckenpferd ist, ging es glücklicherweise schon bald wieder los mit Online-Vorträgen und Mini-Workshops zum Thema Ungewissheit.
Was war die Situation in Ihrem Leben, in denen Sie die Ungewissheit besonders zu spüren bekommen haben?
Ich wurde ohne Schilddrüse geboren und war damals das erste Neugeborene in der Klinik, das durch den gerade frisch eingesetzten Fersentest ganz früh entdeckt wurde. Es war nicht klar, wie ich mich entwickeln würde, ich war das erste Kind meiner Eltern, und beide waren sehr verunsichert. Irgendwie hat mich wohl dieser Umstand Ungewissheit zu meiner Verbündeten werden lassen. Ich habe mich immer leidenschaftlich ins Fremde, Unbekannte gestürzt – ob das jetzt Länder, Sprachen, Herausforderungen, Jobs oder Abenteuer waren.
Eine der unangenehmeren Situationen war, als ich mit meinem damals 5-jährigen Sohn allein nach Taipei gezogen war und wir die ersten Tage dort übergangsweise in der fremden Wohnung eines Bekannten verbrachten, bis ich für uns was Eigenes gefunden hatte. Mein Sohn hatte furchtbar Heimweh, und ich wollte für ihn stark sein, obwohl ich in dem Moment tatsächlich nicht sicher war, ob ich das alles schaffen würde. Die ersten Tage waren kaum auszuhalten, ich habe mich schrecklich allein gefühlt und hatte ein schlechtes Gewissen meinem Sohn gegenüber. Nach einer knappen Woche ging es dann langsam besser. Wir hatten tatsächlich zwei wundervolle Jahre dort mit zauberhaften Menschen und unvergesslichen Erlebnissen. Aber der Anfang war knallhart und total ungewiss.
An Sie wenden sich vor allem Unternehmen: Welche Fragen treiben diese besonders um, wenn es um Unsicherheit geht?
Meistens ist eine der ersten Fragen: Wie sieht gute Führung in unsicheren Zeiten aus? Ich erkläre dann Folgendes: Unsicherheit und Ungewissheit sind nicht dasselbe. Ungewissheit ist der Zustand des Nicht-Wissens und Unsicherheit ist das, was Ungewissheit auslösen kann. Das ist deshalb so wichtig zu verstehen, weil sich beides eben nicht bedingt. Ich kann Sicherheit in der Ungewissheit schaffen, ich kann lernen, sicher in der Ungewissheit zu navigieren. Das ist genau, was einerseits Führungskräfte und andererseits Mitarbeiter brauchen – die Fähigkeit Sicherheit in der Ungewissheit zu schaffen. Das kann man lernen, das ist eine Mischung aus einer bestimmten Haltung und konkreter Strategien.
Was gilt es für Gesundheitsbetriebe besonders zu beachten, um ungewisse Zeiten unbeschadet durchschiffen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen?
Redundanzen zu schaffen und die sich auch zu leisten! Hier ist Kosteneffizienz definitiv keine Freundin der Ungewissheitstoleranz. In der Vorbereitung auf eine ungewisse Zukunft ist es ein bisschen wie bei der Vorbereitung einer Segelexpedition ins unbekannte Gewässer. Es braucht einerseits ausreichend Proviant, Ersatzteile, Werkzeuge und Wasser, um auch längere Flauten und Stürme zu überstehen. Auf der anderen Seite kann das Schiff nicht zu voll beladen werden, da Wendigkeit ein ebenso wichtiger Faktor ist. Wo ist also der „Sweet Spot“ zwischen Minimalismus auf der einen Seite und Redundanzen auf der anderen? Es lohnt sich immer, in verschiedenen Szenarien zu denken. Was wäre der Worst Case? Worauf wäre man überhaupt vorbereitet?
Was ist der beste Tipp, den Sie Menschen an die Hand geben können, um Stärke aus ungewissen Situationen zu ziehen? Welchen Schutzmantel können sie sich anziehen?
Wenn etwas nicht läuft, wie geplant, neigen wir dazu, das negativ zu bewerten. Wir ärgern uns, sind gestresst und genervt. Der erste Schritt, um Ungewissheit als Ressource zu sehen, ist eine andere Haltung zu disziplinieren. Fehlertoleranz und Ergebnisoffenheit sind dabei ganz wichtig. Sich immer zu fragen, okay, dumm gelaufen, aber was hat mir die Situation gezeigt? Was habe ich gelernt? Was habe ich vielleicht sogar geschenkt bekommen (eine Einsicht, eine neue Bekanntschaft, eine neue Erfahrung)? Wir sind so darauf gepolt, nur immer die Defizite zu sehen, dass es uns meist erst einmal schwer fällt, den Fokus zu verschieben. Wer das schon ein bisschen geübt hat, dem rate ich, mit verschiedenen Zukunftsversionen zu spielen: was könnte in den nächsten Stunden/Tagen/Wochen alles passieren? Wie könnte man sich auf diese verschiedenen Varianten am besten vorbereiten? Wir trainieren so unser Gehirn, unsere Vorstellungskraft und Kreativität. Das ermöglicht uns eine „grundlose Gelassenheit“ (Gert Scobel).